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Titel
Beyond the Movie Theater. Sites, Sponsors, Uses, Audiences


Autor(en)
Waller, Gregory A.
Erschienen
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
$ 34.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Loiperdinger, FB II, Medienwissenschaft, Universität Trier

Filmgeschichtsschreibung und öffentliche Wahrnehmung richten ihre Aufmerksamkeit beim Thema Kino gewöhnlich auf kommerzielle Unterhaltung mit langen Spielfilmen, die von ortsfesten gewinnorientierten Kinobetrieben angeboten wird. Gregory Waller plädiert für eine „Gewichtsverlagerung“ (S. 30) der US-amerikanischen Film- und Kinogeschichtsschreibung der 1910er-Jahre zugunsten von nicht-kommerziellen Filmvorführungen, die außerhalb der Filmtheater stattfanden. Dafür hat sich in den USA in den 1930er-Jahren der Terminus „non-theatrical cinema“ eingebürgert. Diese Residualkategorie bezeichnet eine schwer überschaubare Vielfalt unzähliger Filmveranstaltungen, die vorrangig auf Werbung und Bildung ausgerichtet waren. Für seine umfassende Studie greift Waller hauptsächlich auf seine eigenen ausgedehnten Recherchen in digitalisierten Fachzeitschriften und Tageszeitungen zurück, die mit ihren verstreuten Anzeigen und Berichten reichhaltige Informationen, gewissermaßen ein implizites Archiv solcher Filmvorführungen enthalten. Da eine systematisierende Darstellung kaum möglich ist, bietet der Autor eine Fülle exemplarischer Mikrogeschichten, um vier „definitive features“ (S. 30) darzustellen, die „non-theatrical cinema“ charakterisieren: „sponsorship, multi-purposed use, multi-sited exhibition, targeted audiences“ (S. 30). Kino jenseits kommerzieller Filmtheater zeichnet sich demnach aus durch Auftraggeber und Veranstalter, die mit Filmvorführungen in diversen Örtlichkeiten vielfältige Zwecke im Hinblick auf bestimmte Zielgruppen verfolgen.

Als prägnantes Beispiel für erfolgreiches Sponsoring stellt Waller das Melodram Your Girl and Mine (1915) vor: Produziert von Louis Selznicks kommerzieller World Film Corporation, beruht der Plot auf einer Idee von Medill McCormick, die in führender Position in der 400.000 Mitglieder starken National American Woman Suffrage Association (NAWSA) tätig war. Aufführungen des Films wurden von lokalen NAWSA-Ortsgruppen organisiert, die dafür geeignete Räumlichkeiten anmieteten (vgl. S. 40). Als Beispiel für ein erfolgreiches Gemeindekino behandelt der Autor das kostenlose Open-Air-Kino in den Parkanlagen von St. Louis: Im Sommer 1914 erreichten 56 Aufführungen von überwiegend dokumentarischen Kurzfilmprogrammen 304.000 Zuschauerinnen und Zuschauer (vgl. S. 47). Weitere Veranstalter nicht-kommerzieller Filmvorführungen in St. Louis waren Sonntagsschulen, Kirchengemeinden, jüdische Organisationen, politische Parteien, Privatfirmen, Berufsverbände und die Handelskammer. Ein vollständiger Überblick lässt sich nicht erstellen, da etliche Filmveranstaltungen in der Lokalpresse nicht erscheinen.

Die zeitgenössische Branchenpresse in den USA richtete Rubriken für „educational films“ (S. 63) ein und lobte die Multifunktionalität des nicht-kommerziellen Kinos – in der Tat gab es „a host of uses, from promoting the cause of suffrage and educating waves of new immigrants to selling high-price corsets, revealing the mysteries of microscopic life, and documenting expeditions to the polar south“ (S. 91). Tragbare 35mm-Projektoren und mobile feuersichere Vorführkabinen eröffneten den Veranstaltern unterschiedliche Örtlichkeiten, die für Filmvorführungen nicht vorgesehen, aber durchaus geeignet waren. Werbeanzeigen für spezielle Filmprojektoren verhießen potentielle Ubiquität: „Can be used without danger by anyone, anytime, anywhere“ (S. 121) lautet zum Beispiel das Werbeversprechen für den Pathescope-Projektor. Den Branchenzeitschriften erschienen die Möglichkeiten für den Einsatz von Filmen schier grenzenlos. Gegenüber der angeblichen Homogenisierung des amerikanischen Massenpublikums durch das Unterhaltungskino aus Hollywood betont Waller die auffällige Diversität der lokalen Zielgruppen von Filmveranstaltungen jenseits der kommerziellen Filmtheater. So wurden etwa die Arbeitsschutzfilme der National Association of Manufacturers (NAM) neben der üblichen Kinoauswertung vom Sponsor selbst und von anderen Veranstaltern zum Zweck von „industrial betterment“ eng definierten Zielpublika wie Firmenbelegschaften und Verbandsmitgliedern vorgeführt (S. 139–146).

Das letzte Kapitel widmet sich unter dem Titel „Event Cinema“ den Ausstellungskinos auf Landesschauen wie der Northwestern Products Exposition 1912 und auf der großen Panama-Pacific International Exposition 1915 in Chicago. Dort zeugten über sechzig in den Pavillons installierte Projektionssäle von der „omnipresence“ (S. 175) audio-visueller Instruktion: Überwiegend halbstündige illustrierte Vorträge mit Lichtbildern und Filmen versuchten dem Publikum die jeweiligen Ausstellungsthemen nahe zu bringen, von der Geschichte der Schreibmaschine bis zur Schönheit schwedischer Landschaften. Der Medienmix von stehenden Lichtbildern und Filmen war charakteristisch für die schlicht und sachlich eingerichteten „non-theatrical theaters“ (S. 187–191) auf Ausstellungen. Während der Filmerklärer im damaligen kommerziellen Unterhaltungskino bereits durch Zwischentitel in den Filmen selbst weitgehend ersetzt war, setzte das Ereigniskino der Ausstellungen auf die mündliche Vermittlung der gezeigten Lichtbilder und Filme.

Gregory Wallers instruktive Fallstudien demonstrieren eindrucksvoll die Ubiquität, die das Kino jenseits der kommerziellen Filmtheater in den USA Mitte der 1910er-Jahre bereits erreicht hatte. Für die Geschichte der Public Relations von einschlägigen Firmen, Verbänden, Behörden, Religionsgemeinschaften sowie kulturellen, karitativen und politischen Organisationen bietet der Autor ungeahnte Quellen der Inspiration für künftige Forschungen.

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